Eine breite Mehrheit der deutschen Unternehmen profitiert von den wichtigen Errungenschaften der EU wie der politischen Stabilität, der gemeinsamen Währung und den einheitliche EU-Standards, wie das aktuelle Unternehmensbarometer der Deutschen Industrie- und Handelskammer im Vorfeld der Europawahlen zeigt. Aber: Die überwiegende Mehrheit der befragten Unternehmen aller Branchen gaben in der Umfrage an, dass die europäische Union als der Standort an Attraktivität verloren hat. Europa braucht darum eine neue Agenda für Wettbewerbsfähigkeit.
Aus Sicht der Deutsch-Niederländischen Handelskammer gibt es die folgenden zehn Punkte, an denen dringend gearbeitet werden muss:
1. Abbau der Bürokratie
Für jedes abgeschaffte europäische Gesetz entstanden 2023 fünf neue Gesetze – so ist es keine Überraschung, dass 95 Prozent der Unternehmen im Unternehmensbarometer einen Bürokratieabbau als wichtigstes Instrument sehen, um die Wettbewerbsfähigkeit der EU zu verbessern. Der Bürokratieabbau ist keine neue Forderung. Und immer wieder kündigen EU-Politiker an, hier Abhilfe schaffen zu wollen. Zuletzt forderte unter anderem EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen vor genau einem Jahr öffentlichkeitswirksam, die Berichtspflichten in der EU um 25 Prozent senken zu wollen. Ein Jahr später jedoch gibt es statt weniger mehr Bürokratie. Ein gutes Beispiel hierfür ist das europäische Lieferkettengesetz: 43 Prozent der befragten Unternehmen stufen es als negativ für die Wettbewerbsfähigkeit der EU ein.
2. Schnellere Genehmigungsverfahren
Neben kleinteiligen Dokumentationspflichten drücken komplexe Zulassungs- und Genehmigungsverfahren auf die Innovations- und Investitionsbereitschaft. Und dabei geht es doch auch anders, wie das „Deutschlandtempo“ von Bundeskanzler Olaf Scholz beim Bau von LNG-Terminals nach Ausbruch des Ukrainekrieges gezeigt hat. Doch leider bleiben zügige Genehmigungsverfahren bislang noch die Ausnahme.
Feste Zeitlimits für Genehmigungsverfahren in allen Wirtschaftsbereichen wären ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung. Und auch für Genehmigungsverfahren gilt: Weniger ist mehr – auch hier sollten die Informations- und Berichtspflichten nicht weiter erhöht, sondern eingedämmt werden.
3. International wettbewerbsfähige Energiepreise
Die hohen Energiepreise bringen den Wirtschaftsstandort Europa an seine Grenzen. Um in der EU weiterhin global wettbewerbsfähig produzieren zu können, sollten Klimaschutz und Wettbewerbsfähigkeit noch besser miteinander in Einklang gebracht werden. Dies bedeutet für die Übergangszeit – bis günstige erneuerbare Energie in ausreichendem Maße zur Verfügung steht – eine unkompliziertere Entlastung von Unternehmen.
Auch ein vollständig integrierter Strombinnenmarkt kann zu günstigeren Strompreisen innerhalb der EU führen. Die Aufteilung Europas in zahlreiche kleinteilige Preiszonen hingegen ist ein Kostentreiber für die Wirtschaft. Darum sollte eine gemeinsame europäische Energieinfrastruktur, vom Stromnetz bis zu Wasserstoffleitungen, politisch vorangetrieben werden. Ansonsten drohen die energieintensiven Industrien abzuwandern und die für den Wettbewerbsstandort Europa so wichtigen zukunftsweisenden Ansiedlungen wie Chip-Herstellern oder Batterieproduzenten auf Grund der hohen Energiekosten auszubleiben.
4. Erhöhung der Resilienz von Wertschöpfungs- und Lieferketten
Die Lieferkettenunterbrechungen der vergangenen Jahre haben gezeigt, dass Europa die Resilienz seiner Wertschöpfungs- und Lieferketten erhöhen sollte, um die Versorgungssicherheit bei Energie, Rohstoffen und strategisch wichtigen Technologien sicherzustellen. Einseitige Abhängigkeiten gegenüber einzelnen Lieferländern sollten reduziert werden. Unternehmen diversifizieren bereits selbst ihre Lieferketten – neben neuen Handels- und Rohstoffabkommen brauchen sie aber auch zusätzliche Unterstützung von der EU über einen staatlich geförderten Aufbau neuer Wertschöpfungsketten in der EU. Und auch hier gilt: Die Notifizierungsverfahren müssen deutlich beschleunigt ausgestaltet werden.
5. Innovation und Forschung in der EU stärken
Unternehmen berichten immer wieder, dass übermäßige Regulierung und der nicht ausreichende Transfer von der Wissenschaft in marktreife Produkte der Unternehmen die größten Hemmnisse für weitere Innovationen sind. Doch auch die finanziellen Mittel müssen erhöht werden: Zwar gehört Deutschland im weltweiten Vergleich zu den Ländern mit den höchsten Innovations- und Forschungsausgaben im Verhältnis zum BIP, jedoch liegt der EU-weite Durchschnitt (2,32 Prozent) weit hinter Südkorea (4,81 Prozent), den USA (3,45 Prozent) und Japan (3,26 Prozent) zurück.
6. Handelsabkommen voranbringen
Die internationale Zusammenarbeit mit wichtigen Handelspartnern muss durch neue Handelsabkommen verbessert werden. Die EU sollte dabei bilaterale Handelsabkommen nicht mit wirtschaftsfremden Themen überladen, damit sie einfacher zum Abschluss gebracht werden können. Insbesondere die Ratifizierung des EU-Abkommens mit den Mercosur-Staaten und die Verhandlungen der Abkommen mit Indien sollten abgeschlossen werden.
7. Datennutzung ermöglichen
Daten sind ein wichtiges Wirtschaftsgut und entscheidender Wettbewerbsfaktor für Unternehmen. Damit sich datenbasierte Geschäftsmodelle in der EU etablieren können, ist es wichtig, einen innovationsfreundlichen, allgemeingültigen und sicheren Rechtsrahmen zu haben. Mit Blick auf den Datenzugang und die Weiterverwendung von industriellen Daten müssen rechtliche Unklarheiten, die die derzeitige Fassung des Data Acts aufweist, geklärt werden. Um die Datennutzung innerhalb Europas zu stärken, benötigen die Unternehmen Mechanismen für den Datenaustausch, Standards, Schnittstellen sowie den Aufbau einer offenen, transparenten und vertrauenswürdigen binneneuropäischen Dateninfrastruktur.
8. Chancen der Künstlichen Intelligenz ergreifen
Bei der Ausgestaltung rechtlicher Rahmenbedingungen für Künstliche Intelligenz (KI) am Standort Europa ist es wichtig, die Sicherheit, Transparenz und Vertrauenswürdigkeit von KI-Systemen zu stärken und gleichzeitig innovationsfreundliche Rahmenbedingungen zu erhalten. Gesetzliche Regelungen dürfen keine unnötigen Hemmnisse für die Weiterentwicklung bei KI aufbauen und sollten innovationsfördernd wirken. Europa sollte die Chancen der Technologie ergreifen und eine Vorreiterrolle bei der Schaffung von sicherer, transparenter und vertrauenswürdiger KI einnehmen.
9. Cybersicherheit stärken
Für kritische Infrastrukturen und weitere wichtige Unternehmen bestehen bereits gesetzliche Vorgaben. Insbesondere kleinere und mittlere Unternehmen sollten aber nicht unverhältnismäßig mit Dokumentationspflichten und Haftung belastet werden. Der Entwurf des Cyber Resilience Act erscheint als ein richtiger Ansatz, der aber nicht über das Ziel hinaus Innovationen, z. B. im Bereich der Open Source-Lösungen, verhindern darf.
10. Fachkräfte entwickeln, gewinnen und halten
Der Fachkräftemangel ist sowohl in den Niederlanden als auch in Deutschland eine der größten Herausforderungen für Wirtschaft und Gesellschaft. Und wurde in der aktuellen Frühsommerkonjunkturumfrage der DIHK als zweithäufigstes Geschäftsrisiko genannt – nach den Energie- und Rohstoffpreisen. 62 Prozent aller Unternehmen sehen darin ein Problem.
Mit Blick auf die betriebliche Fachkräftesicherung sollte von den Mitgliedstaaten europaweit eine intensive Berufsorientierung zur Regel gemacht werden. Hierbei sollten auch die berufliche Qualifizierung, die Chancen der betrieblichen Ausbildung und der höheren Berufsbildung als gleichwertige Alternative zur akademischen Bildung aufgezeigt werden. Auch die Migration von Arbeitskräften aus dem außereuropäischen Ausland wird eine immer wichtigere Rolle spielen, die Rekrutierung aus Drittstatten ist jedoch oftmals langwierig, bürokratisch und kompliziert.
Nur wenn es Europa gelingt, die nachhaltige Transformation der Wirtschaft mit globaler Wettbewerbsfähigkeit zu verbinden, kann der Wirtschaftsstandort Europa wieder an Attraktivität gewinnen und sich nicht nur selbst zukunftssicher aufstellen, sondern auch zu einem Modell für andere Regionen in der Welt werden.
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